Radikale niederländische Rechtschreibreform ist 75 Jahre alt

Die einheitliche niederländische Rechtschreibung, wie wir sie heute kennen, entwickelte sich aus der ursprünglichen Initiative von flämischen und niederländischen Sprachwissenschaftlern zur Erstellung des Wörterbuchs der niederländischen Sprache (WNT) auf dem Sprach- und Literaturkongress in Brüssel (1851). Das WNT (Realisierung 1864–1998) sollte den niederländischen Wortschatz der vorigen Jahrhunderte erfassen. Das Problem war, ihn mit Hinblick auf große Schwankungen und verschiedene historische Rechtschreibsysteme ins Wörterbuch niederzuschreiben.

Marchants Rechtschreibung
Marchants Rechtschreibung entwickelte sich aus der de Vries- und te Winkel-Rechtschreibung und orthografischen Vorschlägen von Kollewijn und ist die Basis der heutigen einheitlichen Rechtschreibung in den niederländischsprachigen Ländern
Zwecks Erstellung des Wörterbuchs wurde beschlossen, verbindliche Rechtschreibregeln aufzustellen. Diese Aufgabe nahmen niederländische Sprachwissenschaftler Matthias de Vries und Lammert Allard te Winkel in Angriff. Ihr System basierte auf drei damals verbreiteten Orthografiesystemen und wurde im Jahr 1863 veröffentlicht. Ein Jahr später wurde es in Belgien an Schulen und in Behörden eingeführt. An den niederländischen Schulen ersetzte es ältere Rechtschreiberegeln de facto im Jahr 1870, in amtlichen Dokumenten verwendete man es seit dem Jahr 1883.

Ein Vorteil der Orthografie von de Vries- & te Winkel war die einheitliche Schreibung in den Niederlanden und in Belgien. Ihr Nachteil bestand im etymologischen Prinzip, das ihr zugrunde lag: Die Schreibformen leiteten sich von der Wortherkunft ab, und in vielen Fällen wichen sie von der Aussprache ab. Im Jahr 1891 veröffentlicht der niederländische Linguist Roeland Anthonie Kollewijn einen Aufsatz, in dem er eben die Aussprache als die Richtschnur für die Wortschreibung vorschlägt. Seit dem Jahr 1916 versuchte eine in den Niederlanden tätige Kommission, einen Orthografiekompromiss zwischen den beiden Positionen zu ermitteln.

Grundzüge der Rechtschreibreform nach Marchant (1934)
– Es verschwindet ein Großteil der -ee- und -oo-, lange Vokale am Ende der offenen Silben werden nicht mehr verdoppelt: heetten > heten, loopen > lopen, deelen > delen.
– Es verschwindet ein Großteil der -sch (ein Relikt aus dem Mittelniederländischen), die im Einklang mit der Aussprache durch -s ersetzt werden: mensch > mens, visch > vis, Nederlandsch > Nederlands.
– Es verschwindet ein Großteil der alten Kasusformen: den > de.
Beispiel: Intusschen zijn in groote deelen van de Fransche steeden veele menschen noodig. > Intussen zijn in grote delen van de Franse steden vele mensen nodig.

Am 1. September 1934 führte der Schulminister Henri Marchant in den Niederlanden ein Orthografiesystem ein, das einen Großteil der Vorschläge von Kollewijn übernahm. Im Verlaufe des 2. Weltkriegs suchte man dann eine Lösung für eine einheitliche Rechtschreibung für die Niederlande und Belgien. Am Marchants Rechtschreibsystem wurden vereinfachende Änderungen vorgenommen, die in Flandern im Jahr 1946 und in den Niederlanden ein Jahr darauf umgesetzt wurden. Diese auf der Aussprache basierten Rechtschreibregeln wurden 1954 in Wörterbuchform kodifiziert (1. Ausgabe des sog. „Grünen Büchleins“) und ihre Prinzipien gelten nach kleinen Änderungen in den Jahren 1996 und 2006 bis heute einheitlich in allen Staaten der Niederländischen Sprachunion.